Wie weiter mit dem Recht auf Stadt in der Krise?
Liebe Aktive für ein Recht auf Stadt!
Die aktuelle Krise, zu der die rasante Verbreitung des COVID-19 Virus, Quarantäne-Maßnahmen, die verordnete „soziale Distanz“, aktuelle politische Restriktionen und wirtschaftliche Folgen zählen, macht Fragen um das Recht auf Stadt und Mieter:innenkämpfe akuter denn je – denn sie sind eng verwoben mit anderen Kämpfen für eine solidarische Gesellschaft. Die COVID-19-Pandemie sowie die gegen die Ausbreitung getroffenen Maßnahmen treffen uns nicht alle gleich, es bestehen Ungerechtigkeiten, die sich aktuell verschärfen. Das zeigt sich an vielen Beispielen, die in einer engen Beziehung zum Recht auf Stadt stehen. Auf einige wollen wir hier eingehen.
Gesundheit und Care – ist für alle gesorgt?
Die medizinische Versorgung, die Ärzt:innen-Dichte und die Qualität der angebotenen Behandlung ist von Stadtteil zu Stadtteil und von Region zu Region unterschiedlich. Die angebotene Gesundheitsversorgung steht nicht allen zur Verfügung: Menschen ohne Krankenversicherung und illegalisierte Personen haben keinen direkten Zugang zum Gesundheitssystem. Andere Personengruppen müssen bei Ärzt:innenbesuchen mit Diskriminierung rechnen; Rassismus, Trans- und Interfeindlichkeit sind hierfür Beispiele. Auch so werden Menschen von notwendiger medizinischer Versorgung abgehalten. In der derzeitigen Krise verschärft sich diese Dynamik. Weil psychiatrische Behandlungen, Sucht- und Sozialberatungen nicht mehr stattfinden, hat die derzeitige Krisenbewältigung desaströse Folgen für viele Menschen.Wir dürfen uns nichts vormachen: Das Gesundheitssystem in Deutschland beruht auf kapitalistischen und Austeritäts-Prinzipien. Profitorientierung und Sparzwang verhindern eine an Bedürfnissen orientierte, hochwertige medizinische Versorgung. Jobs im Pflege- und Gesundheitssektor meist schlecht bezahlt und gering anerkannt – ein einmaliges Dankeschön in der Krisensituation reicht nicht! Die derzeitige Krise wurde durch das Virus ausgelöst, hat aber ihre Wurzeln in staatlicher Austeritätspolitik, die Sorgelogiken dominiert.
#WirbleibenZuhause – doch das „Zuhause“ vieler Menschen ist und bleibt prekär
Menschen, die in beengten, schlecht gelegenen oder unzureichend ausgestatteten Wohnungen leben, trifft #WirbleibenZuhause besonders hart, sie haben keine Möglichkeit nach außen auszuweichen. Durch viel gemeinsame Zeit auf engen Raum, Nachbar:innenstreit, Einsamkeit oder Streit im eigenen Haushalt verschärfen sich Konfliktsituationen, hohe psychische Belastung können Folgen sein. Darüber hinaus gibt es für von Missbrauch und Gewalt getroffene Personen weniger Möglichkeiten, sich den Täter:innen zu entziehen. Gerade jetzt, da ein Zugang zu sozialer Infrastruktur und öffentlich zugänglichem Raum stark beschränkt oder verboten ist, zeigt sich, wie wichtig dieser für das gesellschaftliche Zusammenleben sowie das persönliche Leben ist und wie wesentlich es daher ist, allen Menschen den Zugang zu diesen Räumen zu gewähren.Soziale Infrastrukturen wie Frauenhäuser oder Schutzräume für LGBTIQ*-Personen sind im Alltagsbetrieb schon häufig ausgelastet und unzureichend finanziert beziehungsweise vorhanden. Notwendig sind daher ein Stopp der Verdrängung von marginalisierten Personen aus dem sogenannten öffentlichen Raum sowie Ausbau und umfassende Finanzierung von sozialer Infrastruktur, für alle! Die derzeitige Gestaltung der Krise ist für Menschen ohne Wohnung, Menschen mit geringen Einkommen oder sich durch Corona verringerndem Einkommen eine große Bedrohung. Obwohl Kündigungen aufgrund von Mietausfällen bis September 2020 ausgeschlossen wurden ist unklar, wer die Kosten dieser immensen Mietschulden tragen wird.
Polizei, Kontrollen und Verdrängung: Wen trifft staatliche Repression?
Polizeiliche Kontrollen zur Durchsetzung von Verboten und Regeln im öffentlichen Raum treffen nie alle gleich. Sogenannte verdachtsunabhängige Personenkontrollen haben häufig eine rassistische Motivation, richten sich gegen Jugendliche, LGBTIQ*s, Obdachlose, Sexarbeiter:innen oder andere Personen, die als normabweichend angesehen werden. Ein Blick nach Frankreich oder in andere Länder, in denen es bereits seit einigen Tagen eine Ausgangssperre gibt, zeigt, dass diese Gruppen auch bei einer Durchsetzung von Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren besonders in den Fokus gerückt werden. Insbesondere wohnungslose Menschen und Sexarbeiter:innen sind massiver Verdrängung und Unsichtbarmachung ausgesetzt, was viele Gefahren für diese Menschen mit sich bringt.
Wenn dein Schutz nicht in deiner Macht steht: Migration in der Krise
Nicht alle Menschen können sich gleich gut vor einer Infektion schützen. Menschen, die in Sammelunterkünften, Lagern, Gefängnissen oder anderen beengten Verhältnissen leben müssen, beziehungsweise dort gefangen gehalten werden, können sich selbst deutlich schlechter vor Ansteckungen schützen. Sie sind oft unzureichenden hygienischen Bedingungen ausgesetzt. Ihnen wird häufig verboten sich selbst um ihre Gesundheit zu kümmern, ihnen wird der Zugang zur medizinischen Behandlung durch Wärter:innen gewährt oder verwehrt. Sie können sich nicht selbst um eine Minimierung von sozialen Kontakten kümmern. In Lagern, Gefängnissen und in Sammelunterkünften sind die Menschen oft Willkür, Rassismus, Machtmissbrauch von Betreuer:innen, Wärter:innen und Sicherheitspersonal ausgesetzt. In Suhl, unweit von Weimar, wo nach einem Corona-Fall in der Thüringer Erstaufnahme die über 500 Bewohnenden unter Quarantäne stehen, zeigen sich zunehmend Probleme. Menschen in der dortigen Sammelunterkunft wurden nach der Infektion einer Person mit Covid-19 nicht ausreichend informiert, die Menschen haben Angst, ihnen wird nicht geholfen. Stattdessen werden Menschen, die durch Fluchterfahrungen häufig Traumapatient:innen sind, mit massiver Polizeirepression begegnet. Rassistische Gerüchte, die sich bezüglich der Lage in Suhl verbreiteten, wurden von der dort eingesetzten Polizei in Umlauf gebracht. Die Lage an der europäischen Außengrenze ist untragbar. Seit Jahren werden Menschen durch europäische Abschottungspolitik getötet, sterben im Mittelmeer oder auf dem Weg dorthin. Gerade spitzt sich die Situation weiter zu. Die migrierenden Menschen werden an der europäischen Grenze mit allen Mitteln an der Weiterreise gehindert. Die Lager sind überfüllt und die Zustände für die Bewohner:innen schlecht – nicht nur, aber besonders auf den griechischen Inseln. Aktuell kommt die Gefahr des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie hinzu. Menschen, die an einer Weiterreise gehindert werden, können weder Abstand halten und sich in eine eigene Wohnung zurückziehen, noch die Hygieneregeln einhalten. Solche Lager gleichen gezwungenermaßen jeden Tag Großveranstaltungen, wie sie in allen europäischen Ländern aktuell verboten sind! Sammelunterkünfte, Abschiebehaft, Obdachlosenheime und Lager bieten besonders in der derzeitigen Krise keinen angemessenen Schutz. Menschen müssen daher sofort die Möglichkeit erhalten, diese zu verlassen. Für eine glaubwürdige Krisenpolitik heißt das: Aufnahme von Menschen aus überfüllten Lagern an den europäischen Außengrenzen! Hotelzimmer zu Übergangswohnungen!
Was es braucht? Solidarische Städte und Kommunen!
Viele Konflikte und Problemlagen, die sich in Zeiten der COVID-19-Krise zuspitzen, sind nicht neu. Sie entstehen durch eine ungerechte und kapitalistische Gesellschaft. Sie entstehen dadurch, dass viele Menschen keinen angemessen Wohnraum haben, kein Bleiberecht, kaum Einkommen und von ihren Jobs, ihren Lebenspartner:innen und anderem abhängig sind. Sie entstehen durch Rassismus, Sexismus und Klassismus. Sie entstehen durch Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die Zuspitzung der Probleme durch die derzeitige Krise zeigt überdeutlich: Wir brauchen solidarische Städte und Gemeinden. Menschen brauchen dort, wo sie leben, uneingeschränktes Bleiberecht, sie müssen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, Wohnraum muss endlich für alle zugänglich sein und als Grundrecht behandelt werden, nicht als Ware. Patriarchale Unterdrückung muss bekämpft werden. In solidarischen Städten und Gemeinden muss es Hilfsangebote geben für Menschen, die Gewalt und Missbrauch ausgeliefert sind. In den solidarischen Städten, von denen wir sprechen, werden Menschen nicht mehr ausgebeutet, ihre Lebensgrundlage ist innerhalb planetarer Grenzen bedingungslos gesichert. Die Gesundheitsversorgung ist für alle zugänglich, sie orientiert sich an Bedürfnissen und Bedarfen und nicht an Gewinn. Illegalisierung, Lager und Abschiebungen gehören der Geschichte an. In solidarischen und freien Städten und Gemeinden lernen Menschen nach und nach, sich selbst zu organisieren und mit Krisen und Problemen selbstverantwortlich umzugehen. Es gibt genug Platz, um neu ankommende Menschen aufzunehmen. Mit Ungerechtigkeit, Ausbeutung oder Diskriminierung wird offen umgegangen: Sie wird benannt und angesprochen, ernstgenommen und gemeinsam bearbeitet. Nachbar:innenschaften bilden lokale Netzwerke, solidarische Infrastrukturen können von allen genutzt werden. Wirtschaftskreisläufe werden regionalisiert und klimagerecht gestaltet.All das sind Ideen für eine solidarische Stadt der Zukunft – eine Stadt, die widerständig und im Krisenfall zugleich widerstandsfähig ist. Um sie zu erreichen braucht es Kämpfe allerorten!
Für eine gemeinsame Intervention der Recht auf Stadt Bewegung!
Für uns stellen sich momentan viele konkrete Fragen:
- Wie können wir uns abseits von Demonstrationen und gewohnten Aktionsformen organisieren?
- Inwiefern bringt die aktuelle Krise Möglichkeiten für Veränderung und wie können wir sie nutzen?
- Welche Kampagnen müssen wir jetzt im Moment des Bruchs mit voller Kraft verfolgen?
- Wie kann eine notwendige kritische Beobachtung von Maßnahmen, Regeln, Verboten und Gesetzen, die im Rahmen des Umgangs mit der COVID-19-Pandemie erlassen werden, aus Recht-auf-Stadt-Perspektive aussehen?
Zu diesen Fragen und den oben angerissenen Themen wollen wir in den Austausch treten. Vor ein paar Wochen baten wir euch bereits um Rückmeldungen zu unserem Statement. Von den Reaktionen waren die meisten sehr positiv und wollten gern mit uns weiter an diesem Thema arbeiten! Wir denken weiterhin, dass es wichtig ist sich als Recht auf Stadt-Bewegung zu positionieren und der aktuellen Situation nicht tatenlos zuzusehen. Deshalb haben wir einen Programmpunkt während des digitalen Forums geschaffen, bei der alle Interessierten eingeladen sind, als Bewegung eine Positionierung zu finden und darüber hinaus Forderungen und Formen der Aktion zu sammeln. Hiermit seit ihr herzlich eingeladen, aktiv an diesem Programmpunkt mitzuwirken!
Liebe und Solidarität –
Orgagruppe Recht auf Stadt Forum 2020
Organisiert im Kollektiv Raumstation